Menschenmütter ahnen es vielleicht schon: Der Job von Schimpansenmüttern ist kein einfacher. Lesen Sie hier, was die Wissenschaft aktuell weiss über die Herausforderungen, denen Schimpansenmütter in freier Wildbahn gegenüberstehen.
von Rahel Noser
Um es vorweg zu nehmen: Es gibt nur wenige ausgewachsene Schimpansenfrauen, die keine Mütter sind. Doch es gibt sie: Jane Goodall beobachtete zum Beispiel das Weibchen GG in Gombe, das während 28 Jahren zwar regelmässig empfängnisbereit wurde und sich mit Männern paarte, doch nie schwanger wurde. Auch von anderen Studienorten wird von Schimpansinnen berichtet, die offenbar keine Kinder bekommen. Der Grund dafür ist oft nicht bekannt. Doch die allermeisten Schimpansinnen sind oder werden Mütter.
Der erste Schritt
Für viele von ihnen beginnt das Mutterwerden mit einem einschneidenden Schritt: Sie verlassen an der Schwelle zum Erwachsensein – um ihr 13. Lebensjahr herum – die Gruppe, in der sie geboren und aufgewachsen sind, um sich in einer fremden sozialen Gruppe fortzupflanzen.
Es gibt gute Hinweise darauf, dass die Weibchen das Timing für diesen grossen Schritt sorgfältig auswählen: Sie tun es weniger in einem bestimmten Alter oder weil sie etwa von den anderen dazu gedrängt werden, als vielmehr dann, wenn viele Früchte in ihrem Wald zu finden sind, so dass ihnen genügend Energie zur Verfügung steht.
Denn dies ist ein kritischer Moment in ihrem Leben, der Tage, Wochen, Monate oder Jahre in Anspruch nehmen kann – genau weiss dies niemand. Das Verhalten wirft viele Fragen auf. Denn dass die Weibchen überhaupt auswandern, ist erstaunlich: Sie verlieren dabei alle sozialen Kontakte, auf die sie für ihr Wohlergehen angewiesen sind. Weil Schimpansengruppen in einem fixen Territorium leben, verlassen die Schimpansinnen auch ihr bekanntes Zuhause und verlieren damit viel Wissen, wann und wo sie gute Nahrung finden können.
Doch nicht alle Schimpansenfrauen verlassen ihre Geburtsgruppen. Es gibt solche, die ein Leben lang bleiben. Und es gibt solche, die zwar gehen, aber offenbar ihre Meinung ändern und nach kürzerer Abwesenheit wieder in die alte Gruppe zurückkehren. Darum vermuten die Forschenden, dass sie vielleicht nur dann permanent die Gruppe wechseln, wenn sie ein schlechteres Streifgebiet gegen ein besseres eintauschen können.
Das Begrüssungskomittee
Wenn sie versuchen, in einer neuen Gruppe Fuss zu fassen, schlägt den jungen Schimpansinnen ein durchzogener Wind entgegen. Am meisten freuen sich die jungen Schimpansenmänner. Auch sie sind mit dem Übertritt ins Erwachsenenleben beschäftigt. Obwohl sie ihr Leben lang in der Gruppe bleiben, in der sie geboren sind, ist dies keine einfache Zeit für sie. Sie sind sozial noch nicht etabliert und daran, ihre Position in der Gruppe zu finden. Vor allem sind sie den älteren Frauen in ihrer Gruppe noch haushoch unterlegen und können sich nicht mit ihnen paaren. Die Neuen sind darum willkommene potenzielle Sexualpartnerinnen.
Die älteren Männer der Gruppen, in welche die Schimpansinnen einwandern, sehen den Neuen reichlich gelassen entgegen. Sie gehen auf Nummer sicher und investieren ihre wertvolle Zeit lieber in die Beziehungen zu den Damen, die bereits gut in ihrer Gruppe etabliert sind. Und deren Freude wiederum hält sich definitiv in Grenzen: Oft sind die ansässigen Frauen unverhohlen aggressiv mit den neuen, denn sie werden mit ihnen das begrenzte Territorium teilen müssen, und das heisst: Die guten Futterplätze.
So kommt es, dass frisch eingewanderte Schimpansinnen ihre Erwachsenenleben auf der alleruntersten Sprosse der sozialen Leiter beginnen. Erst mit den Jahren können sie die Beziehungen festigen und sozial langsam aufsteigen. Der Stress, den sie in der ersten Zeit aushalten müssen, ist messbar: Das Stresshormon Kortisol ist bei ihnen deutlich erhöht. Sie bekommen in den ersten Jahren meist keine Kinder, obwohl sie sich mit den jungen Männern paaren. Wenn sie endlich schwanger werden, verlieren sie ihre Erstgeborenen häufig.
Die frischgebackenen Mütter
Ist das erste Kind aber da, im Schnitt nach 228 Tagen Schwangerschaft, kommen zahlreiche neue Aufgaben auf die frischgebackenen Mütter zu. Sie können nicht auf die Hilfe der Väter zählen – diese tragen nur indirekt zum Wohlergehen ihrer Kinder bei, indem sie gemeinsam mit allen Männern das Territorium gegenüber anderen Gruppen verteidigen. Das Aufziehen der Kinder ist darum die alleinige Aufgabe der Mütter.
In den ersten sechs Monaten tragen die Mütter ihre Säuglinge stets auf dem Körper, meist am Bauch. In dieser Zeit sind sie meist allein mit ihren Babys unterwegs und regulieren peinlich genau, mit wem sie sich treffen. Schimpansen leben in sogenannten “Fission-Fusion”-Gruppen, in denen sich stündlich und täglich ändert, wer sich innerhalb des Territoriums mit wem zusammentut.
Wenn die jungen Mütter mit Säugling überhaupt sozialisieren, dann mit anderen Frauen, jedoch möglichst nicht mit Männern. Denn von den Männern kann eine Gefahr für die Kleinen ausgehen – bekanntlich poltern diese gerne und oft in der Gegend herum, um sich und den anderen ihre Grösse und Stärke zu beweisen.
Dabei können sie die Kinder ganz gezielt – zum Beipspiel wenn sie nicht die Väter sind – oder auch unabsichtlich verletzen. Und die Mütter sind natürlich die letzten, die möchten, dass ihren Kleinen etwas zustösst. Wenn sie trotzdem in einer Untergruppe mit Männern unterwegs sind, dann dürfen die Kleinen sich kaum von den Müttern entfernen. Je älter und robuster die Kinder werden, desto eher lassen die Mütter zu, dass sie sich auch in Gegenwart der Männer ein paar Schritte von ihr wegbewegen.
Knappe Energie
Sicherheit ist gut und recht, aber andrerseits müssen die Kleinen auch sehr viel lernen, um gute Schimpansen zu werden. Weil Schimpansenkinder vieles im Spiel lernen, spielen die Mütter so oft wie möglich mit ihren Kindern. Sie tun dies auch dann noch, wenn das Nahrungsangebot so knapp ist, dass alle anderen Schimpansen aufs Spielen verzichten, um kostbare Energie zu sparen. Die Mütter scheinen das Wohl ihrer Kinder höher zu gewichten: Sie spielen auch bei ausgesprochener Nahrungsknappheit mit ihren Kleinen – auf Kosten ihres eigenen Energiehaushalts.
Zwar beginnen die Kinder schon mit 4-5 Monaten, da und dort festes Essen auszuprobieren (sie haben dann bereits einige Milchzähne), doch sie bleiben noch jahrelang auf die Muttermilch angewiesen. Die körperliche Belastung für die Mütter ist während der ersten beiden Lebensjahre ihrer Kinder besonders hoch. Es ist die Zeit, wenn diese am meisten wachsen. Insbesondere die rangtiefen Mütter, die keinen Zugang zu guten Futterplätzen haben, schöpfen in dieser Zeit von ihren körpereigenen Energiereserven.
Dies hat Folgen: Bevor sie wieder empfängnisbereit werden können, brauchen ihre Körper eine Ruhepause, um sich von den Strapazen zu erholen. So kommt es, dass ranghohe Schimpansenfrauen nach dem Entwöhnen eines Kindes früher mit dem nächsten schwanger werden können als rangtiefe. Im Schnitt vergehen 3 – 6 Jahre zwischen zwei Geburten.
Noch ein Kind!
Und jetzt wird es für die Mütter erst richtig knifflig mit der Energie: Denn auch wenn die 3-6jährigen Wonneproppen vollständig entwöhnt sind, sind sie noch jahrelang auf die Anwesenheit ihrer Mütter angewiesen und bleiben eng bei ihnen. Viele Mütter tragen unterdessen schon ein kleineres Geschwister im Fell und benötigen viel Energie für ihre Milch. Die Streifgebiete dieser Trios – Mutter, entwöhntes Kind und Säugling – sind jedoch besonders klein! Die Forschenden vermuten, dass die grösseren Geschwister, die nun meist selber laufen müssen, noch nicht ausdauernd genug sind für lange Märsche.
Die Mütter mit einem grösseren und einem kleineren Kind tragen manchmal beide Kinder – eins auf dem Bauch, das andere auf dem Rücken. Sie verbringen viel Zeit mit Lausen des grösseren Kindes, insbesondere wenn dieses eine Tochter ist.
Spannend ist, dass die jüngeren Geschwister von den älteren zu profitieren scheinen: Im Vergleich mit Kindern ohne älteres Geschwister überleben sie eher bis zu einem Alter von mindestens 8 Jahren. Warum dies so ist, verstehen die Wissenschaftler noch nicht genau. Vielleicht sind die Mütter beim zweiten und jedem weiteren Kind einfach bereits erfahrener und halten vielleicht bereits einen höheren sozialen Rang, so dass sie endlich Zugang zu etwas besseren Futterplätzen haben.
Wie viele Kinder im Leben?
Obwohl Schimpansen seit bald 65 Jahren in freier Wildbahn erforscht werden, wissen wir nicht, wieviele Kinder eine wilde Schimpansin im Verlauf ihres Lebens durchschnittlich haben kann. Für eine robuste Datenlage müssen zahlreiche Schimpansinnen ihr ganzes Leben lang kontinuierlich beobachtet werden, und dieses dauert 40 oder 50 Jahre!
Schimpansinnen können alle 3-6 Jahre ein Kind haben. Zusätzlich ist die Kindersterblichkeit in manchen Regenwäldern gross – hier sterben über die Hälfte aller Kinder vor Vollendung des ersten Lebensjahres. Die Fruchtbarkeit der Schimpansinnen nimmt ab einem Alter von 30 Jahren ab, und nach 50 bekommen sie in aller Regel keine Kinder mehr – allerdings erreichen viele von ihnen das Alter der Menopause gar nicht.
Die ranghohe Fifi, die Jane Goodall in den 1960er Jahren im Gombe Nationalpark in Tansania als zweijährige kennenlernte, sollte im Laufe ihres Lebens neun Kinder bekommen, bevor sie 2004 verstarb. Sie dürfte allerdings unter allen Schimpansenmüttern die Ausnahme gewesen sein. Denn sie war Teil einer äusserst einflussreichen Familie, welche die besten Futterplätze für sich beanspruchte. An anderen Studienorten schätzen die Forschenden, dass jede Schimpansin im Laufe ihres Lebens zwei bis fünf Kinder hat, die bis ins Erwachsenenalter überleben.
Was dies für den Schimpansenschutz bedeutet
Das Wissen um die knappe Energie und die langen Fortpflanzungszyklen der Schimpansenmütter ist wichtig für den Schimpansenschutz. Denn vielleicht ahnen Sie es bereits: Weil Schimpansenmütter nur wenige Kinder in grossen Abständen haben können, sind die Schimpansenpopulationen enorm verletzlich. Wenn eine Population durch einen Schock wie einen Krankheitsausbruch, durch Wilderei oder durch Qualitätsverlust ihres Waldes schrumpft, braucht sie anschliessend lange Zeit vorteilhafte äussere Bedinungen, bevor sie sich wieder erholen kann. Hat sie dies nicht, schrumpft sie weiter, bis sie verschwindet.
Es ist darum wichtig, dass immer mehr Menschen verstehen: Die Schimpansenpopulationen in ganz Afrika sind am Schrumpfen. Viele von ihnen sind bereits verschwunden, bevor wir sie kennenlernen konnten. Ohne entschlossene Aktion riskieren wir, unsere nächsten Verwandten im Tierreich ganz zu verlieren. Wir können uns dies nicht leisten. Denn Schimpansen spielen eine wichtige Rolle für gesunde Regenwälder Afrikas, auf die nicht nur sie selber, sondern wir alle dringend angewiesen sind.