Unterschiedliche Kinder

Unterschiedliche Kinder
17/12/2022 Rahel Noser

Wie bei Menschen zeichnen sich auch bei Schimpansen gewisse Persönlichkeitszüge schon früh in der Kindheit ab. Unter den Jungs in der Kindergruppe in Tchimpounga ist George dominant und oft ruppig im Umgang. Der intelligente, neugierige Kabi verbündet sich gern mit ihm. Vienna (im Bild oben) hingegen ist feinfühlig und beobachtet gern. Er setzt sich rührend für die Kleineren ein – und schafft sich so viele Freunde. 

Vienna kam als rund Einjähriger im Jahr 2017 nach Tchimpounga. Wie alle in der Kindergruppe war er von Wilderern aus den armen seiner Mutter gestohlen worden und für den illegalen Wildtierhandel bestimmt. Doch er wurde entdeckt und in die Schutzstation gebracht.

Anfänglich litt Vienna an ausgeprägten Trennungsängsten. Jedesmal, wenn seine Ersatzmutter Antonette sich von ihm abwandte, begann Vienna zu schreien und klammerte sich an sie. Antonette nahm ihn dann jeweils fest in ihren Arm, bis er sich wieder beruhigte.

Vienna verbrachte die erste Zeit in Tchimpounga in ständigem Körperkontakt mit Tierpflegerin Antonette. © JGI / Ferndando Turmo

Sie begann, Vienna in ein Tragetuch zu nehmen, wenn sie Futter zubereitete oder andere Arbeiten erledigte. Das tat dem kleinen Schimpansen sichtlich gut. So verbrachten die beiden anfangs 24/7 miteinander. Nachts schlief Vienna in Antonettes Bett, und Antonette stand genau wie für ein Menschenkind mitten in der Nacht auf, um ihm seine Flasche zu geben.

Als Vienna schiesslich mit Kabi und George zusammengeführt wurde, hatte er eine lange, harte Zeit. Die beiden waren viel ruppiger als er und schlugen ihn oft. Vienna schrie und weinte anfangs viel. Er brauchte sehr viel Unterstützung von Antonette, um sich in der kleinen Gruppe einzugewöhnen.

Als Tina Ende 2019 zu diesem Trio stiess, zeigte sich erstmals, wie wichtig Vienna für die Gruppe war. Auch Tina wurde von den beiden anderen herumgestossen und geschlagen. Es war dann jeweils Vienna, der sie umarmte, bei der Hand nahm und an einen ruhigeren Ort führte. Das war auch die Zeit, als er begann, sich gegen George und Kabi zu verteidigen – und einfach zurückzuschlagen.

Vienna empfing Tina freundlich, als sie nach Tchimpounga kam. © JGI / Fernando Turmo.

Vienna wurde unabhängiger von den Tierpflegerinnen. Er spielte gerne mit den anderen, aber er verbrachte auch immer gerne Zeit allein, übte das Klettern in den Bäumen im nahegelegenen Wald und lag oft einfach nur auf einem Ast und beobachtete die anderen.

Bei der Ankunft von Ebelle festigte sich Viennas wichtige Rolle in der Gruppe. Er beschützte auch sie vor den Aggressionen der anderen und sorgte für Frieden – eine Fähigkeit, die später für das Gleichgewicht in einer grösseren Schimpansengruppe unglaublich wichtig sein wird.   

Auch Perrine und Zeze litten unter den Aggressionen von George und Kabi, als sie zur Gruppe stiessen. Vienna hingegen empfing die beiden freundlich. Als er Perrine zum ersten Mal sah, umarmte er sie wie eine alte Freundin. Zeze begrüsste er erst etwas zögerlich. Doch schon bald liefen die beiden wie ein kleiner Zug in jede Ecke des Geheges: Zeze auf den Rücken von Vienna gestützt.

Vienna führt Zeze an der Hand im Gehege herum. © JGI / Fernando Turmo

Eines Tages kam George mit einem Bambus-Stock unbemerkt von hinten auf Vienna zu und schlug ihn hart auf den Kopf. Vienna war ausser sich, stürzte sich kurzerhand auf George und biss ihn kräftig. Die Schreie der beiden riefen ihre Freunde aufs Tapet, und es entstand ein Tumult mit zwei Fronten. Vienna wurde von Zeze, Ebelle und Tina unterstützt, während George Hilfe von Kabi und Covid bekam. Schliesslich mussten die Tierpfleger eingreifen und den Streit schlichten. Wie bei uns Menschen gehört auch bei Schimpansen Aggression schon im Kindesalter zum natürlichen Verhalten – wie auch die Fähigkeit, sich nach einem Streit wieder zu Versöhnen.

Vienna (links im Bild) im Spiel mit den anderen im Wald. © JGI / Fernando Turmo